Wundersattel

Aus Fahrradmonteur
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Wundersattel


Wundersattel „EasySeat II“ ohne Nase, in der Breite verstellbar
Foto: Bernd Hutschenreuther, Lizenz: GFDL & CC-BY-SA
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Immer wieder kommt eine Hysteriewelle angeschwappt, in der von fahrradbedingter Impotenz gewarnt wird. [...] sind dies eher Probleme, die auf falsche Satteljustage und Auswahl eines falschen Sattels zurückzuführen sind und das Fahrergewicht nicht korrekt durch die Sitzhöcker getragen wird.
     Sheldon Brown

„Medizinische Sattel“, „Ergonomische Sattel“, „Nasenlose Sattel“, „Lochsattel“... usw.

Es gibt immer wieder Hersteller, die versprechen mit ihren Wundersätteln, daß mit denen alle Probleme beim Radfahren verschwinden. Da erscheinen mit schöner Regelmäßigkeit Sättel, die "ergonomisch" genannt werden, welche mit dicken Vertiefungen in der Mitte oder gar ohne Sattelnase. Glaubt nicht an solchen Werbeschmarrn! Da werden Märchen erzählt von Ärzten, die sowas verordnen oder die das Fahren mit normalen Satteln verbieten, da werden irgendwelche Studien vorgelegt, die irgendwas beweisen sollen. Die Praxis widerlegt das allerdings sehr schnell und glücklicherweise finden solche Produkte auch fast keine Käufer. Bewertungen in Internetforen sprechen eine klare Sprache, es lohnt, sowas mal zu googlen.

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Das Design sieht auf dem Papier gut aus, funktioniert in der Praxis eher schlecht.
     Sheldon Brown

Glaubt man der Werbung für diese Wundersättel, dann hätten alle Radfahrer Prostata- und Potenzprobleme. Seltsamerweise erfährt man über derartige Probleme ausschließlich von diesen Herstellern, Radfahrer beschweren sich nicht darüber.

Wenn es nach den Herstellern der Wundersättel ginge, würden alle bisherigen bewährten Modelle zu Teufelszeug erklärt werden...
  1. Sattel ohne Nase sind gefährlich, weil die Seitenführung fehlt. Man kann nicht mehr geradeaus fahren. Sowas ist nicht nur Menschenverdummung, solche Sattel gehören als lebensgefährlich eigentlich verboten[1]
  2. Die Funktion des Sattels ist physikalisch unmöglich, zumindest bei normaler Fahrweise höher als Schrittempo. In Kurvenfahrt ist die Fliehkraft FF identisch mit der entgegengesetzten Zentripetalkraft FN im Kraftangriffspunk S. S ist dabei der Schwerpunkt des Systems Fahrrad + Radfahrer, welcher in Höhe des Sattels liegt. Fliehkraft und Zentripetalkraft wirken entgegengesetzt und erreichen bei einem 80 kg schwerer Musterradfahrer bei 36 km/h und einem Kurvenradius von 20 Metern ca. 400 N, was wiederum einer vergleichbaren Gewichtskraft von 40,8 kg entspricht.[2] Im Schwepunkt S greifen ebenfalls die rechts- und linksdrehenden Momente nach Bild 76 (s. Quelle) an. Eine Vertikalkraft von 400 N ist unmöglich allein durch Reibung aufzubringen, diese wird von der Sattelnase aufgenommen. Es sei denn der Fahrer würde sich mit dem Rad "in die Kurve legen", wodurch bei idealer Lage die quer zum Fahrer wirkende Kraft sehr gering - theoretisch 0 - ist. Die Fliehkraft wirkt so zusammen mit der Schwerkraft parallel zur Hochachse des Fahrrads. Fortgeschrittene Fahrer, die in einer Kurve schon mal "aus dem Sattel gegangen" sind, wissen dass dies nur erfolgreich ist, wenn man nicht in der sonst üblichen "aufrechten" Kurvenhaltung verbleibt. Vorsicht: Die Technik funktioniert nur wenn der Fahrer sich und das Rad in Richtung der Kurveninnenseite neigt. Die volle Haftreibung kann zudem nur statisch auftreten, bei der Dynamik des Radfahrens ist die wirklich aufnehmbare Kraft erheblich geringer (jedes kleinste Schlagloch verringert die Haftreibung für einen Moment auf Null). Der Haftreibungskoeffizient von PVC liegt zwischen 0,1 und 0,5[3], der Gleitreibungsfaktor liegt deutlich darunter. Die auftretenden Kräfte wären also rein theoretisch bei optimalen Bedingungen schon nicht aufzubringen, in der Praxis aber niemals realisierbar.
  3. Der spezifische Druck steigt an, wenn Material in der Mitte fehlt (sogenannte „Lochsattel“). Je mehr Material in der Mitte fehlt, umso kleiner ist die Fläche des Allerwertesten, die die Gesamtmasse des Oberkörpers aufnehmen muß.[4]
  4. Sattel sind oft zu weich, deshalb kann man sich schnell einen „Wolf“ reiten. Ein weit verbreiteter Irrtum besagt, daß Sattel bequemer sind, je breiter und je weicher sie sind. Genau das Gegenteil ist aber der Fall. Gelsättel können schnell matschig werden und das ist dann wie Fahrradfahren auf einem Pudding.[5] Lediglich bei sehr kurzen Strecken ist sowas bequem.
  5. Brauchbar ist all sowas nur bei absolut aufrechter Sitzweise und völliger Entlastung des Lenkers, Fahrt ohne Kurven und Steigungen und sehr langsam - also quasi niemals.
  6. Wer einen nasenlosen Sattel ausprobieren möchte, baut einfach mal seinen Sattel falschrum aufs Fahrrad, packe ein dickes Kissen drauf und versuche, damit zu fahren Moneyeyes.gif Da freut sich nur Einer: der Hersteller dieses Unfugs
  7. Lochsattel können in Ausnahmefällen sinnvoll sein, hier hilft nur Ausprobieren. Ein Allheilmittel sind sie jedoch nicht. Da die fehlende Auflagefläche in der Mitte vom Rest des Sattels aufgenommen wird, erhöht sich der spezifische Druck umso mehr, je größer das Loch in der Mitte ist
  8. Kein seriöser Fahrradhändler verkauft solche nasenlosen Dinger, die von den Herstellern Sattel genannt werden. Der Fahrradgroßhandel hatte sie nie im Programm. Die werden schon wissen, warum.
  9. Es verhält sich damit wie mit Wundermittelchen zur Kettenpflege, pannensicherer Bereifung bzw. Vollgummireifen und vielem anderen Unfug am Fahrrad:
Nichts weiter als ein Mythos, eine moderne Sage
...und trotzdem fallen immernoch Leute darauf herein...

Nach SQLab erscheint ein weiterer Hersteller nasenloser Sattel auf dem Markt: Stollsteimer Radical bzw. Radical Ride. Neuer Name, alte Idee: genauso unbrauchbar wie alle anderen derartigen Sattel. Zumindest zum Radfahren ;)





  1. ADFC Bielefeld: „...verminderten Seitenführung durch die Oberschenkel, einem schwammigen Sitzgefühl gerade bei Kurvenfahrten und damit zu einer verminderten Verkehrssicherheit des Rades.“
  2. Michael Gressmann: Fahrradphysik und Biomechanik, 11. Auflage 2010 Verlag Delius Klasing, ISBN 978-3-7688-5222-7, Seiten 85ff
  3. Kennwertspeicher der TU Dresden: Haftreibungskoeffizient µ0 verschiedener Flachformgüter und Gegenstoffen (archiviert bei archive.org)
  4. Der Kern des Ledersattels
  5. Radreise-Wiki: Sattel